Abschiedsbrief an den Alkohol

Erstellt von Kerstin Kempermann |

"Deine Mauern und deine Gitterstäbe waren nur Illusionen." Mit einem bewegenden Abschiedsbrief schaut eine Patientin aus der Tagesklinik der Fachklinik Weser auf ihre Beziehung zum Alkohol zurück.

Lieber Alkohol,

über viele Jahre hast du mich begleitet. Du warst mein bester Freund und ich konnte in allen Lebenslagen auf dich zurückgreifen. Du warst mein Trost, mein Halt und die Ablenkung von meinen Problemen. War ich traurig, standest du mir sofort zur Seite und hast mich wiederaufgebaut. Und in freudigen Situationen warst du mein ganz besonderer Kick, meine Belohnung, Manchmal hast du mich auch einfach nur in einen traumlosen Schlaf gewiegt. Nie hast du mich allein gelassen, warst du doch überall in so zahlreichen Verführungen verfügbar. Du hast mich sogar auf meinen Reisen begleitet. Als simples Dosenbier am Strand, während am Horizont die Sonne unterging, oder als ausgefallener Cocktail mit Schirmehen obendrauf, der die Krönung eines gelungenen Urlaubstages war. Auch auf Partys warst du stets um mich herum. Und viele meiner Freunde waren genauso fasziniert von dir wie ich. Doch an manchen Abenden wollte ich auch nur mit dir alleine sein. Du warst dann wie eine beste Freundin für mich und kamst in einer eleganten Prossecco-Flasche daher. Über Stunden konnte ich nur mit dir alleine sein, ohne mich dabei einsam zu fühlen.

Kurz gesagt: Du warst immer in meiner direkten Nähe. Nie hätte ich dir böse Absichten unterstellt, dafür war ich viel zu vernarrt in dich. Das deine Absichten nicht gut waren, war mir lange Zeit unklar. Und als ich endlich bemerkt habe, dass du kein guter Freund für mich warst, war es längst zu spät. Du wolltest mich einfach nicht mehr loslassen. Hast mich in deinen Klauen gepackt gehalten und mir ständig falsche Worte ins Ohr geflüstert. Völlig verdrehte Wahrheiten und Schuldgefühle, die mich noch abhängiger von dir machen sollten. Und plötzlich warst du mir kein Trost mehr, sondern mein Gefängniswärter. Die Zelle um mich herum wurde immer kleiner. Die Gitterstäbe kamen näher und näher und ich drohte fast daran zu ersticken. Ich bekam bald keine Luft mehr. Wie oft ich tief in meinem Inneren geschrien habe, dass du mich endlich in Ruhe lassen sollst, weiß ich nicht mehr. Meine Schreie stießen sowieso auf taube Ohren, denn mein Leid war dir egal Es war nur wichtig, dass ich immer mehr von dir konsumiere. Irgendwann warst du riesengroß und von mir war kaum mehr etwas übrig. Ich war nur noch ein zitterndes Häufchen Elend ohne ein soziales Leben oder eine Perspektive. All das hattest du mir genommen, während ich in deinem Gefängnis saß und immer einsamer wurde.

Doch dann kam irgendwann die Erkenntnis. Deine Mauern und deine Gitterstäbe waren nur Illusionen. Ich hätte sie jederzeit verlassen können. Nur ein Schritt war nötig, um in die Freiheit zu treten. Doch dieser einzige Schritt, war ein schwerer. Du lähmtest meine Füße und drückest mich nieder, sodass es war mir fast unmöglich war, diesen Weg zu gehen. Aber ich habe dich abgeschüttelt. Ich habe gekämpft und mit dir gerungen, bis du mich endlich losgelassen hast.

Trotzdem trauere ich dir in manchen Momenten hinterher, da ich mit dir so viele, schöne Erinnerungen verknüpfe. Zum Glück überwiegen die schlechten Erinnerungen bei Weitem. Das macht es mir deutlich leichter, dich zu ignorieren, wenn du im nächsten Supermarktregal auf mich lauerst. Du wartest nur auf einen schwachen Moment von mir. Das ist mir bewusst. Deshalb bleibe ich wachsam.

Zum Schluss würde ich dir gerne noch sagen, dass es eine schöne Zeit mit dir war, doch das wäre eine Lüge. Auch ein herzliches Dankeschön für deine ewige Bereitschaft spare ich mir. Ich bin mehr als froh darüber, dich endlich los zu sein. Und deshalb schreibe ich dir diesen Brief, um mich von dir zu verabschieden. Ich bin bereit, dich loszulassen, obwohl du mich wohl nie loslassen wirst. Aber damit werde ich leben können. Ich schaffe das, sei dir gewiss. Ich kenne dich inzwischen viel zu gut, um erneut auf deine Lügen hereinzufallen. Lügen über Freiheit. Lügen über Attraktivität. Lügen über Entspannung und Problemlösung.

Also hebe ich mein Glas, dass mit Wasser gefüllt ist. Auf dich und auf ein Nimmerwiedersehen!

 

Deine N.

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